Amyl And The Sniffers: Proll-Punk-Feminismus aus Australien (2024)

Sharpies, UTE-Cars und Bogans. Amyl And The Sniffers sind wie ein wilder Lehrgang in australischer Popkultur. Und sie sind derzeit die heißeste Punk-Band überhaupt. Heute im FM4-House of Pain.

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von Christian Lehner

Mit ihren weißblond gefärbten Haaren, den Stirn- und Nackenfransen und den kürzeren Haaren dazwischen wirkt Amy Taylor bei unserem Video-Chat vom Look her wie ein Skingirl. Doch die Frisur bezieht sich auf eine andere Jugendkultur. Die sogenannten Sharpies machten in den 1960er und 70er-Jahren Australien unsicher. Es waren Jugendliche, die Vokuhilas – also „Vorne-Kurz, Hinten-Lang“-Frisuren trugen, Rockmusik hörten, ihren eigenen Tanzstil entwickelten und allerlei Unfug trieben. Herkunft Arbeiterklasse, so wie Amy Taylor, die aus einem kleinen Kaff im Bundesstaat New South Wales stammt.

„Wir legen uns einfach auf den Rücken und dann kommt der Rasenmäher“, erklärt Amy im Interview lachend den Band-Style. „Wir lieben Mullets! Und was die Sharpies betrifft: die waren wild, und ich liebe es, wild zu sein, und sie waren verrückt und ich liebe es, verrückt zu sein!“

Die verborgene Popkultur

Ein Gespräch mit Amy ist wie ein Lehrgang in Sachen australische Pop-, Jugend- und Alltagskultur. Die 25-Jährige referiert im breitesten Aussie-Akzent über sogenannte Bogans - so nennt man die Prolls und Rednecks in Australien - und ihr Faible für Victoria Bitter-Bier und UTE-Cars. Letztere sind eine Mischung aus normalem Auto und Pick-Up-Truck. All das feiert auch Amy Taylor, aber:

„Ich fühle mich diesem Lifestyle zugehörig, weil ich so aufgewachsen bin. Meine Eltern haben mich auf Auto-Shows geschleppt und Pub-Rock gehört. Leider gibt es unter den Bogans jede Menge Rassisten und hom*ohasser. Wir von Amyl And The Sniffers sind Bogans gegen Rassismus, Bogans gegen Sexismus, Bogans gegen Transfeindlichkeit und den ganzen anderen Scheiß.“

Amyl And The Sniffers, das sind vor allem Dec Martens an der Gitarre, Gus Romer am Bass, Bryce Wilson am Schlagzeug und Amy Taylor am Mikrofon. Die Band-Gründung erfolgte vor fünf Jahren in einem Pub in Melbourne. “Eigentlich nur deshalb, um andere Bands sehen zu können”, wie Amy sagt. Ein paar Riffs und Schreiattacken später rulen Amyl And The Sniffers die gut aufgestellte Punk-Szene Melbournes und werden von den unverbesserlichen Psych-Rockern King Gizzard And The Lizard Wizard mit Industriekontakten versorgt.

Zwei EPs später folgt das Signing beim Indie-Giganten Rough Trade Records. Das erste Album rührt ordentlich um in Australien und England, mit dem zweiten will sich die Band nun weltweit etablieren. Das wird gelingen.

Riot Grrrl zwischen AC/DC und Dolly Parton

Amyl And The Sniffers spielen eine Mischung aus Punk, Pub-Rock, den frühen AC/DC und gelegentlich auch Hardcore. Im Laufe des Interviews nennt Amy australische Bands wie The Radiators oder die Cosmic Psychos als wesentliche Einflüsse auf den Sound der Band.

Sie selbst bezeichnet Dolly Parton und Cardi B als Vorbilder, wenn es um Haltung im Popgeschäft geht (“Dolly is the best human being on the planet”). Die entfesselt schonungslosen Live-Auftritte und das Gesten-Repertoire erinnern hingegen stark an die Bühnen-Antics des jungen Bon Scott (der sich übrigens im verlinkten Video beim Sprung über den Altar ein Bein brach).

„Comfort To Me“ ist auf Rought Trade Records erschienen. Hier geht’s zum FM4-Interview Podcast mit Amyl And The Sniffers.

Über die Riffing-Offensive von Gitarre und Bass und die steil nach vorne gehenden Drums bellt, hustet und spuckt Amy Taylor ihre Texte. Energie ist dabei ein Stichwort, das im Zusammenhang mit der Sängerin immer wieder fällt. Im Eröffnungsstück des neuen Albums, dem Song “Guided By Angles”, singt sie: “Energy, good energy and bad energy/ I’ve got plenty of energy / It’s my currency”

Dazu Amy Taylor: „Ich kann stillsitzen, dir aufmerksam zuhören, mich konzentrieren, aber sobald Musik da ist, muss ich mich bewegen. Und wenn ich auf einer Bühne stehe, dann möchte ich ausrasten, Dinge zerstören, wild und frei sein.“

Die 13 Songs des neuen Albums “Comfort To Me” bündeln die Energie des Punk, bereiten sie mit Wahnwitz, Willen und Selbstbewusstsein für die Autotune-Murmelpop-Ära auf und schließen sie mit aktuellen Themen wie Raubbau an Mensch und Natur, sozialen Schieflagen in Australien und Sexismus kurz. Amy Taylor gibt sich nachdenklich und verletzlich. Aber nur kurz. Dann streckt sie den Mittelfinger aus und droht wie das Rumpelstilzchen zu platzen. Für sie – so scheint es - haben die Deutschen den Atomausstieg erfunden.

“I’m short I’m shy I’m f*cked up / I’m bloody ugly /Get out my way /Don’t bloody touch me” – Freaks To The Front.

Warum das so viel besser ist als das, was die routinierten Genre-Langweiler*innen von der Kreisliga bis zur Champions League abliefern und warum das so viel mehr kann als das aktuelle Revival von Fun-Punk im Pop, erklärt sich auch aus der Teamleistung von und hinter Amyl And The Sniffers. Wie die Mannschaft an den Instrumenten und Reglern stoisch im Hintergrund für den Star Amy Taylor arbeitet und in tausendfach zuvor gehörten Riffs kleine Hooks und großen Antrieb versteckt (Produktion: Nick Launay, Mixing: Bernie Grundman), scheut keinen Vergleich mit den Großen des Genres. So wie die Ramones verfügen auch Amyl And The Sniffers über die Gabe, aus dem Immergleichen sensationelle Momente der Abwechslung zu schaffen.

“Unser Bandname rührt von der Bezeichnung Amylnitrit. Das ist eine chemische Substanz, die in Europa als „Poppers“ bezeichnet wird. Man schnüffelt sie aus kleinen Fläschchen. Anschließend ist man für gut 40 Sekunden benommen und danach bekommt man Kopfschmerzen – genau wie bei unseren Songs.“

Sexismus und Feminismus im Punk

Die Songs dauern selten länger als zweieinhalb Minuten und hämmern die Message in unsere Köpfe. In Stücken wie dem fulminanten “Hertz” toasted Amy Taylor ihre Lyrics wie eine Rapperin, was den alten Riff-Raketen hilft, in der Gegenwart einzuschlagen. Amyl And The Sniffers sind im Grunde eine Post-Genre-Band, die ihre Energie nur scheinbar aus der Vergangenheit bezieht. Jede Geste, jeder Ton signalisiert “hier und jetzt!”.

Und Amy Taylor sichert sich bereits jetzt einen Status als eine der Großen des Pop. Ihr manisches Naturell versteckt sie nicht hinter den wilden Performances, sondern macht es zum Gegenstand ihrer Texte. Und sie haut auch im Interview wunderbare Sätze raus wie:

“Das Album ist wie ein Sandwich. Es geht um viele Dinge - Käse, Schinken, Salat. Aber am Ende schmeckt es einfach wie ein Sandwich.”

Über ihre Erfahrungen in der Rock- und Punkszene sagt sie:

„… Was mich aber am meisten nervt: Frauen müssen so viel mehr leisten, so viel härter arbeiten und so viel besser sein, um eine Chance zu bekommen im Musikgeschäft. Scheiß drauf! Ich kämpfe dafür, dass Frauen genau so viel Mist bauen können wie Männer. Wenn es eine Message gibt, dann die: Geht raus und spielt. Und wenn es richtig schlecht ist, umso besser, dann spielt erst recht!“

Mehr zu Amyl And The Sniffers heute im FM4-House Of Pain ab 22 Uhr.

Publiziert am 15.09.2021

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